Testo-Techniken. Queere Zeitlichkeiten und Selbstdokumentation in trans* Vlogs
Auf YouTube dokumentieren viele Female-to-Male (FtM) trans* Personen in Video-Blogs (Vlogs) den Prozess ihrer geschlechtlichen Transition. Oft geht es in den Videos um die durch den Einfluss von medizinischen Testosteronpräparaten stattfindenden körperlichen Veränderungen. Die zentrale Bedeutung von Testosteron während dieses Prozesses zeigt sich nicht zuletzt in den Thematiken der einzelnen Videos: Viele zelebrieren den Tag, an dem sie zum ersten Mal Testosteron einnehmen, als zweiten Geburtstag oder ‚T-Day‘ und nehmen auch in darauffolgenden Videos explizit Bezug auf dieses Datum, indem sie die Vlogbeiträge nach den Tagen, Monaten oder Jahren ‚auf Testosteron‘ betiteln.
Das Forschungsprojekt rückt die Praxis des Vloggens und in dessen Kontext die Einnahme von Testosteron als selbstdokumentarische Praktiken in den Blick, die sich gleichzeitig der Kontrolle des Selbst zumindest teilweise entziehen. Während Testosteron in populären Diskursen als ein Hormon gerahmt wird, dessen Wirkungen beinahe ‚magisch‘ erscheinen bezogen auf Verjüngung, Vermännlichung und Potenz, finden wir in trans* Vlogs auch Zweifel an diesen Gewissheiten. Testosteron wirkt nicht in jedem Körper und nicht in jedem Körper gleich. Es bringt regelmäßig ungewünschte oder unerwartete Effekte hervor oder umgekehrt bleiben erwarteten Wirkungen aus. Das Projekt nimmt die Verschränkung von Testosteron mit den Vlogs in den Blick und perspektiviert die Funktion dieser Anordnung im Prozess der geschlechtlichen Transition neu. Dieser Prozess selbst unterliegt einem massiven Dokumentationszwang seitens medizinischer, gerichtlicher und therapeutischer Institutionen, sodass trans* Vlogs bisher als eine Art selbstbestimmtem Gegenentwurf dazu beschrieben wurden. In Rücksicht auf die mit dem Einsatz der Techniken Testosteron und Vlog verbundenen Unsicherheiten muss die Perspektive jedoch verschoben werden. In diesem Sinne wird Selbstdokumentation hier nicht als Selbstverwirklichung entlang einer teleologischen Zurichtung des Körpers von einem Geschlecht zu einem anderen verstanden. Vielmehr zielt das Projekt darauf, den Zusammenhang von Testosteron, Vlog und geschlechtlichem Selbst als ein permamentes Werden zu begreifen, das potenziell queere Zeitlichkeiten eröffnet.
Dr. des. Sarah Horn Seit 10/2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2016–2020 Kollegiatin am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug.“ an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 10/2020 gemeinsam mit Jasmin Degeling Sprecherin der AG Gender- / Queer Studies und Medienwissenschaft. Seit 2016 im Redaktionsteam des onlinejournals kultur & geschlecht.