Von Andrea Seier
Ursprünglich veröffentlicht im Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft.
Didier Eribon hat ein überaus beeindruckendes Buch über Subjektivierung geschrieben, eine beachtliche Emanzipationsgeschichte, in der über viele Jahre angeeignetes philosophisches, soziologisches und politisches Wissen am Beispiel der eigenen Biographie erprobt wird sowie umgekehrt die eigene biographische Erzählung anhand unterschiedlicher Theoriekonstellationen ‹erprobt› wird. Es geht um eine Rückkehr der besonderen Art, oder anders, um eine besondere Art der Arbeit am Selbst, die auf drastische Weise seine soziale Situiertheit erschließt und mit diesem Erschließen auf ebenso vehemente und dringliche Weise die Techniken einer Neuerfindung des Selbst aufzeigt. Eine Rückkehr also, die nicht nostalgisch, nicht nur auf der Suche nach sich selbst ist, nicht nur re-konstruiert, sondern sich selbst und seine eigenen attachments in dieser Rückkehr neu erfindet. Diese Neuerfindung ist nicht unbedingt ein fröhliches Unterfangen, sie ist hochgradig ambivalent, mit Verlust und Schmerz verknüpft, und das Buch analysiert diese Ambivalenz zwischen Notwendigkeit und Ermächtigung überaus präzise.
In Rezensionen und Gesprächen heißt es oft, dass Eribon sehr schonungslos mit der eigenen Geschichte und nicht zuletzt auch mit der eigenen Mutter umgehe (vgl. Spiegel, NZZ, Die Neue). Das mag zutreffen, geht aber zugleich auch am Inhalt des Buches ein wenig vorbei. Denn schonungslos ist nicht unbedingt derjenige, der diese Geschichte aufschreibt bzw. mit größter Mühe und Rigorosität den eigenen Verleugnungsstrategien entreißt, sondern die Geschichte selbst bzw. das, was Eribon (mit Bourdieu) soziale Gewalt nennt. In den akademischen und feuilletonistischen Diskussionen, die über das Buch geführt werden, wird nun darüber vergleichsweise wenig gesprochen.
Überhaupt hat man den Eindruck, dass die überwältigende Aufmerksamkeit, die das Buch erlangt, auf rätselhafte Weise einher geht mit einer Vernachlässigung seines Inhaltes (vgl. die FAZ). Die berechtigten Einwände gegen das Buch, wie etwa die fehlende Berücksichtigung der Geschlechterfrage, gehen deshalb leider auch ins Leere, weil auch sie die Hinwendung zu dem, was das Buch erzählt, eher verstellen. Was sich in den Diskussionen über Eribons Buch deutlich abzeichnet, sind unterschiedliche Lektürepraktiken, die aus mikropolitischer Sicht hoch relevant sind. An kaum einem Buch der letzten Jahre fallen biografische, politische und akademische Lektüren derart spürbar auseinander wie an diesem Beispiel einer mikropolitischen Arbeit am Selbst. Und dieses Auseinanderfallen lässt einige Rückschlüsse im Hinblick auf die Frage zu, wie es um das Denken der Intersektionalität eigentlich steht.
Die Kategorie Klasse scheint momentan die große Unbekannte der Trias race-class-gender zu sein. Zu groß ist die Angst vor Essentialismen (warum?), unzulässigen Vereindeutigungen u.ä.. Begriffe wie Subalternität und Prekariat scheinen näher zu liegen, brauchbarer, verschiedenste soziale Markierungen zu benennen. Strategischer Essentialismus hat sich in Bezug auf den Klassenbegriff – britische Cultural Studies mal ausgenommen – nicht durchgesetzt. Eribons Buch ist allerdings gerade deshalb so beeindruckend, weil es darauf aufmerksam macht, wie schwer die Überwindung sozialer Grenzen wiegt, egal wie wir sie gegenwärtig bezeichnen oder ob wir sie überhaupt benennen wollen. Die Wirkmächtigkeit der Scham, die das Buch auf so intensive Weise darlegt, muss wohl als Beleg gelesen werden für die Undurchdringlichkeit sozialer Klassen. Es ist genau dieser Hinweis auf diese Undurchdringlichkeit am Beispiel eines Akademikers, der seine soziale Herkunft vermeintlich hinter sich gelassen hat, woran sich die Politik und das Anliegen dieses Buches ablesen lässt.
Hinweise auf die Arriviertheit von Eribon als Akademiker und Suhrkamp-Autoren etc. sind daher überaus irritierend. Sie lassen sich m.E. tendenziell als Form von Klassismus begreifen, mindestens aber als eine Lektürestrategie, die, ob beabsichtigt oder nicht, das Buch gegen den Strich liest (um mal mit voller Absicht eine Formulierung zu verwenden, die schon aus der Mode gekommen ist). Sie macht nicht die Klassenfrage zum Ding von Belang (Latour), sondern die Tatsache, dass Eribon es ‹geschafft› hat. Sie befördert damit eine Frage, die es gerade nicht zu stellen gilt: Zählt Eribon überhaupt (noch) zu den Subalternen oder nicht?
Damit lässt sich aber weder eine Politisierung der Scham noch überhaupt irgendeine politisch produktive Lektüre des Buches erreichen. Eher empfiehlt es sich wohl, Eribon mit Butler zu lesen (in einer Hinwendung zur eigenen Verletzbarkeit über die Hinwendung zur Verletzbarkeit Eribons), ohne das Buch mit race-class-gender-Registern und dekonstruktivistischen Textlektüren zu depolitisieren. Das Buch liest sich als glühendes Plädoyer für die Politisierung der Scham und kann selbst als gelungenes Beispiel dafür herhalten. Ich würde mir Lektüren wünschen, die dieses Potenzial befördern, anstatt es zu verknappen. Dazu wäre aber die Hinwendung zur eigenen sozialen Situiertheit notwendig. Die Gewalt sozialer Klassifizierung, die das Buch auf so berührende Weise verdeutlicht, hat gegenwärtig durchaus das Potenzial, sich weiter zu verschärfen. Auch Lektüren von Büchern sind in diesem Sinne von Belang.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin (Suhrkamp) 2016
vgl. auch:
Peter Rehberg, Scham und Haltung, in: Der Freitag, 21.12.2016, Ausgabe 49/16
Dirck Linck, Die Politisierung der Scham. Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«, in: Merkur, Heft 70, Nr. 808, 2016, 34-47