Imagine another topology! Zu «time to sync or swim» von Katrin Mayer & Eske Schlüters

Von Jana Seehusen

Ursprünglich veröffentlicht im Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft.

(Abb. 1)

 

Otherkin: Das sind die nicht-so-Verwandten, die von einer anderen Art. Nicht «die Anderen» als eine von der hegemonialen Kultur bezeichnete einheitliche Gruppe, sondern selbst viele andere, vielleicht Wesen, die ‹transethnisch› im Körper einer fremden Spezies leben. Die unter diesem Label auf Social Media-Plattformen wie Tumblr zirkulierende subkulturelle Jugendbewegung trifft in der Ausstellung time to sync or swim (Kunsthalle Lingen, 25.6.- 21.8.2016) auf Orlando: Zusammen mit diesem/dieser Protagonisten/in der gleichnamigen fiktionalen Biografie von Virginia Woolf (1928) stehen in der Installation von Katrin Mayer und Eske Schlüters narrative identity und doing gender als Praktiken im Digitalen zur Disposition.

Orlando, die mindestens zwei Geschlechter und vier Jahrhunderte erlebt, und die postanthropozentrischen Selbsterzählungen der Otherkins, die neben der Identifikation mit anderen Wesen, Tieren, Pflanzen oder Dingen eine hohe Ausdifferenzierung sexueller Orientierungen aufweisen, werden in time to sync or swim in einem assoziationsreichen und allegorischen Beziehungsgeflecht visuell und akustisch erlebbar. Dabei handelt es sich weniger um einen immersiven Erlebnisraum noch um eine repräsentative Darstellung des Otherkin-Phänomens oder eine Nacherzählung von Orlando. Vielmehr entwerfen die Künstlerinnen im Arbeiten in und mit dem Raum ein ebenso vielteiliges wie fragmentarisches Setting, das alle möglichen Materialien, Dinge, Zitate und Medien umgreift und darin ganz verschiedene Arten und Weisen des (Selbst)Erzählens aufeinandertreffen lässt.

(Abb. 2)

Verführt von einer Stimme tauchen die Besucher_innen in die fragmentarische Erzählung ein, einer Stimme, der man sich, sobald man die Funkkopfhörer einmal aufgesetzt hat, kaum mehr zu entziehen vermag. Zunächst führt sie – mit «Hello dear, hi there»1 touristische Führungen anzitierend – in time to sync or swim ein, geht mit «I’m staying here right now – with you – » direkt zum Du über und suggeriert ab da mit Sätzen wie «As  –  I talk  –  I feel  –  ‹I am you›» in wiederholt persönlicher Anrede eine Vertrautheit, durch die sich die Stimme als ein (sich) erzählendes ‹Ich›, als ein vermeintlich authentisches Gegenüber aufdrängt. Hier greift das Phänomen ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response), das seit einigen Jahren als methodisches Verfahren zur Bewusstseinstimulation auf Youtube zirkuliert. Zwischen Geräuschen wie Rascheln, Knistern, Kratzen oder Pusten und stimmlichen Modulationen, wie sie auch in geführten Meditationen zum Einsatz kommen, fragt mich die Stimme bald von rechts, bald von links, mich umkreisend: «Who am I? What am I? What is the ‹I›?» Als wäre ihr «I» eine Versammlung verschiedener Bewusstseinszustände wechselt die Stimme fortan zwischen direkter, indirekter und erlebter Rede unvermittelt die Erzählperspektiven, zwischen Objekt und Subjekt, Ich, Du und Es im Erzählen schwankend. Bewusstseinstriggernd, gleich einem «headmate», wird mir so die aus dem schnurlosen Kopfhörer kommende Stimme zur Gefährtin. Zwar kommt sie nicht aus meinem Kopf, aber nah am Ohr teilen sie und ich das gleiche räumliche Feld, in dem sich das ‹Ich› als ein Empfindungs- und Erfahrungskomplex von variabler Zusammensetzung mit time to sync or swim multiperspektivisch auffächert. «Everything is partly something else»?

(Abb. 3)

Ausgehend von verschiedenen Praktiken des Erzählens, an denen eine Vielzahl von Metaphern, Mikronarrativen, Bildern und oder Techniken parallel teilhaben, konzipieren Mayer und Schlüters time to sync or swim als eine poetologische Probebühne, in die sie die Betrachter_innen aktiv einbinden. Mit der Aufteilung in eine «akustisch-binaurale sowie eine installativ-materielle ‹Spur›»2 laden sie die Besucher_innen nicht nur explizit ein, Beziehungen und Überlagerungen zwischen den Wahrnehmungsebenen im Sehen, Hören und Tasten sowohl mental als auch körperlich herzustellen. Mit der Hörspur provozieren sie zugleich ein fortlaufendes Dissoziieren zwischen Visuellen und Verbalen, das durchaus auch eine unheimliche Seite hat, wie Hanne Loreck in ihrer Ausstellungsbesprechung schreibt, wenn ob der Dissoziation von visuellem und akustischem Raum «innen, ‹im Kopf›, ein Außen entsteht»3 und die traditionellen Oppositionen aufhebt. Dieses Aufheben von Trennungen greift, wenngleich ins Spielerische gewendet, auch zwischen Werk und Betrachter_innen, wenn diese die auf einem Podest dargebotene intelligente Knete verformen oder mit kinetischem Sand experimentiert wird. Mit ähnlicher Wirkung greift eine Art ‹Cutting Together-Apart› (Karen Barad 2014) in der Vermischung von Faktischem und Fiktiven im Erzählen, in dem Versatzstücke aus Internetpost von Otherkins mit Zitat-Fragmenten aus dem Roman Orlando und vielen anderen Quellen verwebt werden. Fragmentierung und Multiplizierung als verbindende (identitätsstiftende) Figur?

Wir hören «Our journeys take us back into the heart of matter itself, down to the depth of matter» und sehen in der begehbaren Installation drapierte, gefaltete und gelochte Stoffe neben bedruckten großformatigen Papierfahnen neben frei hängenden Spiegel-Objekten und raffiniert gefalteten Kragen-Objekten. Zusammengedacht mit der Referenz Orlando erinnern diese Kragen-Objekte, von denen eines aus schwarzem Tüll, eines aus schwarzem Taft und eines aus hellem Filz gemacht ist, möglicherweise an den Film «Orlando» (Sally Potter, GB/F/I/NL/RU 1992) und versetzen uns kurzerhand ins Elisabethanische Zeitalter, in dem dieserart Kragen als modisches Accessoire gleichermaßen von Männern und Frauen getragen wurden. Wer allerdings weder den Roman noch die Verfilmung kennt, assoziiert vielleicht nur geschlechtsneutrale Kostümierungen oder liest die Versammlung verschiedener Würfe und Faltungen der allesamt in schwarz-weiß gehaltenen Stoffe und Materialien zusammen mit der sinnlichen Stimme als Fetisch-Objekte. In einer wiederum gewendeten Perspektive auf das Material und sein Arrangement erscheinen die Faltungen selbst als eine endlose Folge von Achten und geben zeichenhaft Hinweis auf möbiusbandartige Verschlaufungen, deren ‹nicht-orientierbarer› Charakter die Aufhebung einer Trennung von Figur und Grund symbolisiert, ein Motiv, dass an anderer Stelle im Parcours mit einem Hologramm der Kleinschen Flasche wiederkehrt. Die Erzählungen von Stimme und Objekten fordern andauernd zum Perspektivwechsel auf, der durch die eigene Bewegung im Raum auch zum Ortswechsel wird, sowohl meiner selbst als auch der in Bewegung gebrachten sprachlichen und visuellen Codes. «Try to imagine another topology!»

(Abb. 4)

Die einer_einem Otherkin entlehnte Stimme flüstert mir postanthropozentrisch ins Ohr: «I’m a green-eyed person, part tree, part mountain, part river, part sun.» Otherkin und Orlando teilen das Bewusstsein einer multiplen Erfahrung, die sich in der Auffächerung des Erzählens spiegelt. In Orlando zeigt sich diese u.a. im Selbstgespräch während einer Autofahrt am 11. Oktober 1928: «… nach ihrem Reden zu schließen, wechselte sie ihre Ichs nicht weniger schnell als sie das Auto fuhr, – es kam ein neues bei jeder Biegung».4 Mit jedem Satz bringt Orlandos Monolog ein neues Ich hervor, in «(schätzungsweise) siebenundsechzig verschiedenen Zeiten, die alle auf einmal im Geist ticken».5 Knapp 90 Jahre später findet sich die Idee multipler Identitäten bei Otherkins in Form sogenannter ‹headmates›, die in praktisch unbegrenzter Anzahl zu verschiedenen Zeitpunkten die Kontrolle über einen Körper übernehmen können. «I am you –  as I talk I feel  –  I am … such-and-such … XYZ,  I am other kind, kin to the other.» Als Sammelbegriff markiert Otherkin eine Verwandtschaftszugehörigkeit (‹kinship›) zu Tieren, Pflanzen oder fabelhaften Wesen, die nicht bzw. anders (‹other›) als Menschen sind. Anfänge des Otherkin-Konzeptes reichen zurück in die 1960er Jahre, als Gruppen von Menschen begannen, sich mit Fabelwesen zu identifizieren und als Elfen (‹elfenkind›) zu bezeichnen. Doch insbesondere mit dem Entstehen der Blogging-Plattform Tumblr um 2000 kam es zu einer entscheidenden Veränderung des Otherkin-Konzeptes: «Eine neue Generation von Otherkin eignete sich die akademische Sprache von Identitätspolitik und Social-Justice-Activism an, die auch sonst für Tumblr typisch ist.»6 Mit seiner Analyse von Tumblr-Blogs zeichnet Martin Beck in seinem philosophisch und kunst-/ kulturwissenschaftlich orientierten Essay «Postanthropologische Habitate: Otherkin, Digitalisierung, Pubertät» das sich wandelnde Selbstverständnis der Otherkins nach und zeigt, wie verschiedene sprachliche Register sich mit Vorstellungsbildern im Imaginären potentiell überlagern und so gleichzeitig am narrating identity und doing gender im gegenwärtigen Otherkin-Konzept teilhaben. Als eine gesellschaftlich marginalisierte, semi-politische Identitätsgruppe fließt beispielsweise das von Judith Butler etablierte Konzept einer performativen Konstruiertheit von Gender und Geschlecht7 in die Selbsterzählung ebenso mit ein wie möglicherweise ein identitätspolitisches Narrativ der/des Transsexuellen, das sich im Otherkin zugleich nicht selten mit global zirkulierenden fiktiven Figuren wie beispielsweise Manga-Charakteren kurzschließt. Orlando ein Otherkin? Mein ‹headmate› fragt prompt «Can I be a fictional character?»

(Abb. 5)

Mit Orlando entwirft Virginia Woolf schon früh eine Subjektvorstellung, in der Geschlecht als eine gesellschaftlich determinierte Rolle entlarvt wird, ein erzählerisches Spiel, in dem sowohl ‹Mann› und ‹Frau› als auch ‹Androgyn› als überflüssige Manöver markiert werden: «My gender is yes. Except when it’s no. Either way, it’s not male or female.» Ist es ein unbegriffener Rest? Die soziokulturelle Relevanz geschlechtlicher Zuordnung wird dabei ebenso ersichtlich  wie die Möglichkeit eines performativen Ausprobierens der aufgegriffenen Rollenklischees. Orlando ist konzipiert als ein fluides Subjekt, und so sind seine_ihre Geschlechtswechsel «‹etwas Unaufhörliches›, und vielleicht ‹hörte der Wechsel nie auf›. Denn das Geschlecht gehört jetzt nicht mehr ihr. Es gehört der Zeit.» (Eva Meyer)8 Ebenso wie Otherkins sich schreibend als fluide, im Übergang begriffen entwerfen, ist auch die Figur Orlando als Subjekt eine sprachlich verfasste, semantisch fluide Spur. Genderfluid, hören wir in time to sync or swim die Stimme sagen. Genderfluid markiert geschlechtstheoretisch einen fortlaufenden Übergang von female zu male zu female usf. und entwirft das Ich als «Versammlungsort von Ungleichem».9 «I am trigender, non-binary, galaxygender. It’s a gender I made up. It’s hard to describe I think …» Subjektsein wird in dieser Art gegenderter Virtualität zur Aktualität und ob seiner Ambiguität als widerständig erfahrbar – oszillierend zwischen ‹I› und ‹you› als Otherkin in time to sync or swim. So gesehen könnten wir es mit Rosi Braidottis «idea of subjectivity as an assemblage» zukünftig mit einem Subjekt zu tun bekommen, das, wie Hanne Loreck hervorhebt, «eines des Feminismus ist, ein prozessuales, das Andere des Anderen und nicht länger ‹die Frau›».10

Mit Aufforderungen wie «Try to imagine another Topology!» entwerfen Mayer und Schlüters in ihrer künstlerisch-kuratorischen Praxis eine Möglichkeit, sich Anderem und Fremdem zu nähern. Es ist eine Haltung des ‹parler tout contre›, so wie es die Literatin und Filmemacherin Assia Djebar einmal beschrieb: «Sich nicht anmaßen, ‹für› oder – noch schlimmer – ‹über› Frauen zu sprechen, bestenfalls neben und, wenn irgend möglich, dicht neben ihnen.»11 Das Hörstück Trigger Layered Soundscape (26 min.), die Wahrnehmung leitender Teil von sync or swim, führt dies aus als eine vielschichtige Collage von Textversatzstücken aller Genres, Jahrhunderte querend, durchbrochen von Geräuschen aller Art. Ob in diesem polyphonen Erzählen etwas wahr oder falsch, faktisch oder ausgedacht ist, spielt letztlich keine Rolle. Denn jedwede Wertung ist von Konventionen abhängig, das Erzählen als Handeln jedoch generiert (s)eine eigene Handlungswirklichkeit. Erzählen ist immer zugleich ‹making› und ‹doing›. Ebenso wie im Erzählen gleichermaßen ein kulturelles Wissen, eine Ordnung der Dinge sowie intersubjektive Beziehungen hervorgebracht werden, öffnet «Erzählen als Zwischengeschehen»12 Identität und Gender und stabilisiert es möglicherweise intersubjektiv. In den Blogs der Social Media-Plattformen zeigt sich Erzählen als ein geteiltes doing gender, ein unaufhörliches doing identity.

(Abb. 6)

Die Künstlerinnen ließen mit der Einladung zur Ausstellung time to sync or swim ein GIF zirkulieren. Entgegen fixierenden Klassifizierungen wie «Headcanons» oder Listenprofilen bei Facebook13 ändert die dreiteilige Animation aus Gendersymbolen14 fortwährend die binären Zeichen für male & female ab und überträgt normierende Geschlechtskategorisierungen in ein visuelles Spiel. In trans_Formation befindlich, triggert es alternative Subjektvorstellungen. Zugleich schillert darin als mögliche Formation eines Anderswerdens (‹becoming›) ein Begehren, das Thomas Meinecke in seinem neusten Roman Selbst (2016) als «BETWEEN THE NO LONGER AND THE NOT YET» bestimmt. Diese Vorstellung appelliert, topologisch gewendet, an ein Denken in Übergängen, in Korrespondenzen statt in Oppositionen, hineingeworfen in time to sync or swim: «Memory is the seamstress, and a capricious one of that.»

(Abb. 7)

Nachsatz: Wer seinen eigenen Assoziationen zwischen Otherkin und Orlando begegnen möchte, kann dies derzeit im Heidelberger Kunstverein im Rahmen der Ausstellung fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen tun: Katrin Meyer, Eske Schlüters, time to sync or swim und Martin Beck, Postanthropologische Habitate I: love knows no concept of dimension [eine Auswahl visueller und textueller Internet-Posts aus dem Kontext von Otherkin, Memes und Fails, die digitalisierte Körperlichkeiten verhandeln – Ergebnis endloser Streifzüge durch Blogs und Plattformen wie Tumblr, 9gag, Imgur, 4chan.] und ders., Postanthropologische Habitate II: Otherkin, Digitalisierung, Pubertät. Drei Skizzen zu Krisen der Verkörperung [ein Essay aus dem Jahr 2016 als Ausdruck] sind vom 3.12.16 bis 26.02.17 im Heidelberger Kunstverein im Rahmen der Ausstellung fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen zu hören und sehen (eine Ausstellung von a production e. V. mit Martin Beck, Joerg Franzbecker, Heiko Karn, Christine Lemke, Hanne Loreck, Katrin Mayer, Gitte Villesen und Gästen).

«video essay»
Who is writing the Script? Let yourself be triggered by the materials!
—> LISTEN WITH HEADPHONES: https://vimeo.com/178442516 [password: orlando]

Abbildungen:
Abb. 1 = GIF: Katrin Mayer, Eske Schlüters, time to sync or swim, GIF in Zusammenarbeit mit Matthias Grottendieck, 2016.
Abb. 2, 3, 4, 7: Ausstellungsansichten von: Katrin Mayer, Eske Schlüters, time to sync or swim, Kunsthalle Lingen 2016, Fotos: Heiko Karn.
Abb. 5: Katrin Mayer, Eske Schlüters, time to sync or swim (Poster in der Ausstellung) 2016.
Abb. 6, 7: Katrin Mayer, Eske Schlüters, time to sync or swim (Production Still) 2016.