Organisation: Dr. Jasmin Degeling, Graduiertenkolleg Medienanthropologie
Bauhaus-Universität Weimar, 28./29.4.2023
In einigen Feldern der Kultur- und Sozialwissenschaften, in der Politikwissenschaft, Soziologie, Rassismus- und Migrationsforschung, Philosophie bzw. Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft, Kriminologie, den Infrastructure sowie Gender und Queer Studies, ist in den letzten Jahren dezidiert interdisziplinär eine Problematisierung und Repolitisierung von Sicherheit angestrengt worden, die zur Bildung neuer Forschungsfelder wie etwa der ,zivilen Sicherheit’ und der ,sorgenden Sicherheit’ beigetragen hat. Ihr Interesse gilt der Infragestellung oder Dekonstruktion des tradierten Dualismus von Sicherheit/Freiheit, der die politische Frage nach Sicherheit historisch einem Staatsbias (Folkers und Langenohl 2020) unterworfen und sie auf Staatsgewalt verkürzt sowie in Beziehung zu wohlfahrtsstaatlichen Infrastrukturen liberaler Staatlichkeit und ihren Immunopolitiken (Laufenberg 2014) gesetzt hat: So macht das liberal-demokratisch verfasste Paradigma Sicherheit zur Bedingung liberaler Freiheit, das dem Staat die politische Aufgabe der Sicherheit in der Form der Staatsgewalt überträgt (Neocleous 2000; 2008; Laufenberg und Thompson 2021). Effekt dieses liberalen Diskurses ist ein immunologischer Begriff von Sicherheitvor Etwas, vor einem (bedrohlichen) Außen, ein als Grenzschutz figurierter, negativer Sicherheitsbegriff (Loick 2018; 2021) also, der ebenso an einen negativen Freiheitsbegiff gekoppelt ist wie er immanent differentielle Figuren des Anderen hervortreibt samt ihrer Rassifizierungen, Vergeschlechtlichungen, ihrem Ausschluss armer, be_hinderter, homosexueller, queerer, non-binärer, und trans Leben (Loick und Thompson 2022).
Etymologisch abgeleitet vom lateinischen ,securitas’ heißt Sicherheit wörtlich ,ohne Sorge’ bzw. ,Freiheit von Sorge’. So ist in dieser Perspektive zuletzt darauf hingewiesen worden, dass einerseits der Staatsbias des modernen Sicherheitsparadigmas diese ältere Bedeutung der Relationalität von Sicherheit und Sorge vergessen gemacht hat. Andererseits ist Sorge kein Gegenbegriff zu gouvernementaler Versicherheitlichung, sondern vielmehr auf ambivalente Weise verstrickt in moderne Sicherheitsdispositive einschließlich der Sektoren der Reproduktions-, Sorge- und Fürsorgearbeit, der Vorsorge und Versicherung (Lorey 2012; Laufenberg 2020). Dennoch evoziert Sorge immer wieder und in ambivalenter Weise repolitisierte, transformative Sicherheitsbegriffe und -praktiken in Fortsetzung einer kritischen Neuperspektivierung feministischer Sorgepolitik, die nicht so sehr auf die Rekonfiguration gesellschaftlicher Sphären der Arbeit zielt, sondern vielmehr von einer ontologischen Relationalität menschlicher und nicht-menschlicher Sphären, ihrer fortwährenden Re/Konfiguration und Differentialität im Sinne geteilter und getrennter Sozialität ausgeht.
Vor diesem Hintergrund interessiert sich dieser Workshop gleichermaßen für eine Kritik tradierter Sicherheitsdiskurse wie für eine Emanzipation von diesen. Der spezifisch medienwissenschaftliche Einsatz der Neubefragung von Konzepten wie Praktiken von Sicherheit zielt darauf, Sicherheit als eine radikal relationale, differentielle Kategorie beschreibbar zu machen und so die Perspektive auf die konkreten Operationen, Medien und Praktiken der Modulation von Sicherheit zu richten.
Der Workshop schlägt methodisch zwei leitende Aspekte für eine medienwissenschaftliche Perspektivierung vor: Welche Begriffe, Praktiken, Beispiele können in kritischer, differentieller und anthropomedialer Perspektive auf Sicherheit entwickelt werden?
Differentialität: Sicherheit wird radikal relational und differentiell begriffen und als sozial-mediale Konfigurationen verständlich. In den Blick rücken also Prozesse relationaler Segregation, Differenzierung, Stratifizierung. Sicherheit wird etwa als Effekt von Medien, Operationen, Techniken, Infrastrukturen der Kontrolle, Einhegung, als Modulation und Übung von Nähe&Distanz, Beziehung&Trennung, Kopplung und Konfiguration beschreibbar. Dabei geht es nicht allein um die Analyse und Kritik der Geschichtlichkeit des modernen Sicherheitsparadigmas, dessen Immunopolitiken insbesondere aus rassismuskritischer, queerer, feministischer und trans Perspektive problematisiert werden, sondern gleichermaßen um konzeptionelle Arbeit an emanzipatorischen Perspektiven auf Sicherheit: Die differentielle Relationalität von Sicherheit wird zum Ausgangspunkt für eine transformative Perspektive auf geteilte (menschliche und mehr-als-menschliche) Existenzweisen.
Anthropomedialität: Die Entstehung moderner Staaten und liberaler Demokratien ist verbunden mit der Herausbildung eines modernen »Sicherheitspositivs« (Foucault 2006) und dessen bio-politischen Techniken der Sicherheit und Kontrolle, Wachstum und Unterhaltung, Anpassung und Regulation von Milieus menschlicher, nicht-menschlicher und medialer Akteur*innen. Biopolitik drängt dabei auf Regulation und Regierung, Zirkulation und Zugangsregelgung in Auseinandersetzung mit Zuständen von Unsicherheit, Entgrenzung, Überschreitung, Ansteckung, Kontaminierung, Streuung. So hängt mit Foucaults Analyse des modernen Sicherheitsdispositivs bekanntlich die Kritik der Produktion von Anthropologien und (beschränkten) Epistemen anthropologischen Wissens zusammen, die immer auch an Ordnungen, Medien, Techniken und Instrumente der Sicherheit und Kontrolle gebunden sind – beispielhaft etwa in der Bildung des Komplexes von Gefängnis, Polizei, Strafrecht.
Das Sicherheitsparadigma liberaler Staats- und Gesellschaftsformen hängt zudem mit einem eigentumslogischen, männlichen und weißen Phantasma des Subjekts zusammen, das die Hypostasen der Autonomie gleichzeitig verabsolutiert wie es auf operativer Ebene stetige Subjektivierungspraktiken einübt und das liberale Sicherheitsparadigma so individuiert.
In anthropomedialer Perspektive rückt damit die spezifische Geschichtlichkeit anthropomedialer Verschränkungen und Milieus samt ihrer situierten, individuierten Existenzweisen in den Blick. Methodisch wird die Institutierung (anthropozentrischer, eigentumslogischer, kolonial-kapitalistischer, heteronormativer) Figuren ,des Menschen’ in ihrer konstitutiven Relationalität mit medialen und technischen Operationen betrachtet. Es werden situierte Praktiken von Sorge, Sicherheit und Schutz in ihrer Kopplung mit beschränkten medialen und epistemischen Ordnungen der Un/Sichtbarkeit, Un/Sagbarkeit, Un/Hörbarkeit, Empfindung, Aufmerksamkeit, Intelligibilität beschreibbar.
Themen könnten sein und sind nicht reduziert auf:
• Ambivalenzen von Sorge und Un/Sicherheit, Paranoia und Reparativität
• (spekulative) Konzepte, Politiken und Praktiken von Un/Sicherheit und der safe/r spaces aus feministischer, queerer, abolitionistischer, raissismuskritischer und non-binärer/trans Perspektive inkl. Transformative Justice und Community Accountability-Konzepte
• Analyse und Kritik der Diskurse um Sicherheitsbegriffe von Infrastrukturen und technischen Systemen, Praktiken und Protokolle der Intersektionalität sozialer, ziviler, technischer und abolitionistischer Sicherheit digitaler Medienkulturen
• Medienpraktiken und -techniken der Relationalität, Differentialität und Modulation von Schutz und Sicherheit, Versicherung und Verunsicherung bspw. in Bezug auf die Medialität von Un/Sichtbarkeit, Un/Sagbarkeit, Un/Hörbarkeit, Opazität und Identifizierbarkeit, Gegen/Dokumentation, Anerkennung und Verwerfung, Empfindung, Aufmerksamkeit, Intelligibilität
Der Workshop bietet ein Forum für wissenschaftlichen Austausch und soll insbesondere offenen Forschungsprozessen und Fragestellungen Raum bieten. Wir wünschen uns daher Beiträge, die an einem Prozess kollektiver wissenschaftlicher Arbeit und kollegialem Feedback interessiert sind. Eingeladen sind Wissenschaftlerinnen aller Stadien und Statusgruppen, also Absolventinnen, Doktorandinnen, Postdoktorandinnen und fortgeschrittene Wissenschaftler*innen.
Im Rahmen des Workshops am 28. und 29.04.23 werden für jeden Beitrag zwei kurze Respondenzen von etwa 10min vorbereitet und alle Beiträge werden ausführlich diskutiert.
Vorschläge für Beiträge können bis zum 03.02.23 eingereicht werden und sollten Thema und zentrale Fragen umreißen (max. 1500 Zeichen). Die angenommen Beiträge (max. 30000 Zeichen) sollen bis zum 14.04. geschrieben und unter den Workshopteilnehmenden geteilt werden. Anmeldungen für Respondenzen können ebenfalls bis 03.02.23 formlos gemailt werden.
Der Workshop findet in Präsenz statt und wird durch einen Videokonferenzstream unterstützt werden.
Inhaltliche und organisatorische Rückfragen, Papereinreichungen und Anmeldungen für Respondenzen können gerne an Jasmin.Degeling@uni-weimar.de gemailt werden.
Anmeldung zur Teilnahme am Workshop selbst – online wie offline – bitte an Christiane.Lewe@uni-weimar.de
Reisekosten können übernommen werden. Eine Publikation ist angedacht.
Wichtige Ressourcen:
Folkers, Andreas, und Andreas Langenohl. 2020. „Editorial: Was ist sorgende Sicherheit?“ https://doi.org/10.6094/BEHEMOTH.2020.13.2.1043.
Foucault, Michel. 2006. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Vorlesung am Collège de France, 1977 – 1978. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Laufenberg, Mike. 2014. Sexualität und Biomacht: vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge. Gender Studies. Bielefeld: transcript.
———. 2020. „RadicalCareund die Zukunft des WohlfahrtstaatsKonturen einer paradoxen Politik der Sorge“. BEHEMOTH A Journal on Civilisation 13 (2): 99–120.
Laufenberg, Mike, und Vanessa Eileen Thompson, Hrsg. 2021. Sicherheit: rassismuskritische und feministische Beiträge. 1. Auflage. Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Band 49. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Loick, Daniel, Hrsg. 2018. Kritik der Polizei. Frankfurt ; New York: Campus Verlag.
———. 2021. „Ein Grundgefühl der Ordnung, das alle haben. Für einen queeren Begriff von Sicherheit“. In Sicherheit: rassismuskritische und feministische Beiträge, herausgegeben von Mike Laufenberg und Vanessa Eileen Thompson, 1. Auflage, 266–86. Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Band 49. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Loick, Daniel, und Vanessa Eileen Thompson, Hrsg. 2022. Abolitionismus: ein Reader. Erste Auflage, Originalausgabe. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2364. Berlin: Suhrkamp.
Lorey, Isabell. 2012. Die Regierung der Prekären. Wien Berlin: Turia + Kant.
Neocleous, Mark. 2000. The fabrication of social order: a critical theory of police power. Sterling, VA: Pluto Press.
———. 2008. Critique of Security. Montreal: MCGILL QUEENS UNIV PR.
Vernetzungsworkshop für die AG Gender/Queer Studies, AG Migration, Rassismus, Postkolonialität und das Forum Antirassismus Medienwissenschaft
https://gfmedienwissenschaft.de/ag-migration-rassismus-und-postkolonialitaet
https://forum-antirassismus-medienwissenschaft.de/
https://www.uni-weimar.de/de/medien/institute/grama/